Montag, 19. September 2011

Zwei Wirtschaftswelten: Garantiekultur und Täuschungskultur

Tag für Tag werden wir überschwemmt mit hektischen News und Facts aus der Wirtschaftswelt. Tag für Tag verwirren uns Börsenkennziffern, frisierte Firmenverlautbarungen und unkritisch zitierte Prognosen irgendwelcher Wirtschafts- oder Börsengurus. Und kaum jemand ist in der Lage, diese Informationsflut einzuordnen. Für einmal sollten wir die langfristigen Trends in einem breiteren Blickwinkel betrachten.

Der langfristige Trend besteht in einer Auseinanderentwicklung der Wirtschaft in zwei Kulturen, - in eine Garantiekultur in der Realwirtschaft und eine Täuschungs- und Spekulationskultur im Finanzsektor von Banken, Versicherungen und Vermögensberatung.

In der Realwirtschaft: Zunehmende Garantiekultur
Die Realwirtschaft, also die Produktionsbetriebe von Gewerbe und Industrie, der Detailhandel und die Anbieter von realen Dienstleistungen, verfolgen immer mehr eine Garantiekultur: mehr Garantiepflichten, mehr Übernahme der Haftung, mehr Qualitätssicherung und Deklarationspflicht, neu sogar eine Rückverfolgung bis zum Hersteller. Wenn eine neue Autoserie einen Fehler aufweist, werden hunderttausende von Neuwagen zurückgerufen. Wenn bei einem Grossverteiler ein schadhaftes Produkt im Regal auftaucht, nimmt er dieses anstandslos zurück. Und wenn ein Exporteur eine Maschine mit Defekt nach Asien geliefert hat, schickt er sofort einen Monteur dorthin zum Reparieren.

Die Geschäftskultur der Realwirtschaft unterliegt strengen gesetzlichen Rahmenbedingungen. Warentests und die europäische Produktehaftpflicht zwingen die Hersteller zu mehr Qualitäts- und Sicherheitsdenken. Reputationsrisiko und Rückverfolgungspflicht bis hin zum Hersteller haben diese Garantiekultur zu Gunsten der Konsumenten extrem gefördert.

Finanzbranche: Wachsende Täuschungskultur
In genau entgegengesetzter Richtung entwickelte sich die Finanzwirtschaft. Nicht mehr die traditionelle, solide Bankenpraxis – Entgegennahme und Ausleihe von Kundengeldern – ist vorherrschend, sondern eine Täuschungskultur: Mit sogenannt „neuen Finanzmarktinstrumenten“, die niemand richtig versteht, mit spekulativen Derivatgeschäften und vor allem mit ausgeklügelten Disclaiming-Regeln bei Banken und Versicherungen.

Disclaiming heisst Ausschlagen der Haftung. Dies zeigt sich in den seitenlangen, kleingedruckten Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), die nur zum Ziel haben, den Anleger oder Versicherten bei einem Prozess ins Leere laufen zu lassen. Der Schreibende erfuhr als Mitglied der Banken-Jury bei der Wirtschaftszeitschrift „Bilanz“: Die AGB, die die Grossbanken den Privatkunden vorgeben, sind nicht einmal für professionelle Vermögensberater verständlich. Sie dienen einzig dazu, alle Risiken von der Bank weg zu bedingen und auf den Anleger zu überwälzen, sowie sämtliche Haftungsklagen gegen die Bankberater im Keime zu ersticken.

Spekulative Geschäfte
Immer stärker werden Bank- und Devisengeschäfte von der realen Wirtschaft abgekoppelt. Immer mehr entwickelt die internationale Finanzwelt spekulative Casino-Geschäfte, ohne realen Produktionswert und ohne Realwertschöpfung, aber mit erheblichem wirtschaftlichem Zerstörungspotential.

Die neuen „Anlagevehikel“ oder „Finanzmarktinstrumente“ sind kaum mehr überblickbar und kaum verständlich. Die Hedgefonds sind (in der Schweiz) keiner Finanzmarktaufsicht unterstellt, sie unterliegen keinen Eigenmittelvorschriften, und die Manager unterliegen keiner Gewährsprüfung, also der bankenrechtlichen Gewähr für einwandfreie Geschäftsführung.

Je mehr die Banken reguliert werden, desto mehr wird auf den „Schattenbanken-Sektor“ mit seinen Hedgefonds, Dachhedgefonds und Private Equity-Gesellschaften ausgewichen.

Steuerflucht
Die verdeckte, aktive oder passive Beihilfe der Bankenmitarbeiter bei der Steuerflucht in die Schweiz, gehört ebenfalls zur Täuschungskultur dieses Wirtschaftszweigs. Zwar hatten sich die auch die Schweizer Grossbanken 2001 gegenüber dem amerikanischen Fiskus als „Qualified Intermediary“ (QI) ausgewiesen und sich schriftlich zur Einhaltung von amerikanischen Steuergesetzen durch amerikanische Anleger verpflichtet, doch ihre Private Banking-Abteilungen unterliefen danach mit System und Methode jahrelang genau diese Bestimmungen. Nun wurden sie von ihrer eigenen Täuschungsstrategie eingeholt und zahlen für ihr Verschulden. Und der schweizerische Staat musste ihnen nun behilflich sein, ihre früheren Verfehlungen durch Lieferung von Bankdaten an die USA zu korrigieren, im Jahr 2010 im Fall der UBS , im Jahr 2011 im Fall der Credit Suisse und weiterer neun Banken.

Devisentransaktionen und Währungsspekulation
Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ publizierte 2010, dass sich die Devisenhandelsgeschäfte weltweit auf durchschnittlich 4 Billionen Dollar pro Werktag belaufen, also auf 4000 Milliarden Dollar – und zwar pro Tag! Allein die Wechselgeschäfte zwischen dem Franken und den andern Währungen belaufen sich dabei auf rund 250 Milliarden Dollar täglich. Dieser Tagesumsatz entspricht mehr als dem schweizerischen Warenexport eines ganzen Jahres!

Die Devisentransaktionen allein zwischen Franken und Euro-Währung haben laut BIZ ein immenses Tagesvolumen von 72 Milliarden Dollar. Zweifellos spielen diese spekulativen Wechselkursgeschäfte, ausgehend von den fundamentalen Verschuldungsfaktoren in der Welt, eine entscheidende Rolle bei der Aufwertung des Frankens und der Abwertung des Euro, wie wir sie in den Jahren 2010 und 2011 erlebt haben. In dieser Casino-Kultur liegt also ein erhebliches wirtschaftliches Zerstörungspotential für die Realwirtschaft.

Zwei Jahre nach der Finanzmarktkrise wird im internationalen Banking wieder durchgestartet. Die täglichen Währungstransaktionen und die Hedgefonds-Geschäfte sind volumenmässig im Jahr 2011 grösser als 2007, also vor der Krise. Der UBS deklarierte Ende 2010, dass die Grossbank, eben erst vom Staat gerettet, wieder verstärkt in Risikogeschäfte einsteigen will. Diese Strategie könnte sie nie verfolgen, wenn ihre Aktionäre nicht fest damit rechnen könnten, dass sie als systemrelevante Bank auch beim nächsten Crash wieder vom Staat gestützt wird.

Mangelhafte Marktregulierung – fehlende Transparenz
Weshalb erleben wir diese historische Entwicklung weg vom klassischen, unentbehrlichen Spar- und Darlehensgeschäft hin zu dieser Täuschungs- und Spekulationskultur? Mit „Gier“ und „Boni“ allein lässt sich diese Entwicklung nicht erklären – denn Gier ist ja historisch kein neues Phänomen. Es ist vielmehr die schwache Regulierung, die dem Finanzsektor diese Entwicklung ermöglichte und die Täuschungs- und Spekulationskultur amtlich immer noch zulässt.

Entgegen ihrer Selbstdarstellung ist die schweizerische Finanzmarktregulierung im Bankkundengeschäft besonders large. Für dubiose Anlagegeschäfte (zum Beispiel mit Lehman- und Madoff-Papieren), für die unsere Grossbanken in den USA und andern Staaten angeklagt sind und massiv zur Kasse gebeten werden, reicht es im Inland nicht einmal für eine Anklage. Für Provisionen und Kickbacks (im Bankenjargon: Retrozessionen), die in der EU und in den USA deklarationspflichtig und teils verboten sind, hat unsere Finanzmarktaufsicht Finma gleich fünf legale Schlupflöcher konstruiert, die heute noch weidlich genutzt werden. Der Kunde weiss nicht, ob der Anlageberater der Bank Kickbacks für seine Anlageempfehlung unter dem Tisch durch erhält, - eine Wettbewerbsverzerrung mit amtlich bewilligter Kundentäuschung. Die Finma steckt deshalb immer noch in einer Glaubwürdigkeitskrise.

Transparenzlücke bei Pensionskassenkapitalien
Aber auch die über 700 Milliarden Franken an zwangsersparten Pensionskassengeldern sind ein amtlich bewilligter Selbstbedienungsladen für das Anlageberatungs- und Vermögensmanagement-Business. Ihre Vermögensverwaltungskosten waren intransparent und dem Anleger unbekannt. Erst eine vom Bundesamt für Sozialversicherungen BSV in Auftrag gegebene und im Mai 2011 veröffentlichte Studie hat etwas Licht ins verborgene Anlagebusiness der Zweiten Säule gebracht: Die Studie zeigte, dass allein die Vermögensverwaltungskosten vier Mal höher sind als bisher aufgrund des statistischen Reportings ausgewiesen worden war.

Die Hochrechnung dieser BSV-Studie hat ergeben: Die (schon zuvor ausgewiesenen) administrativen Verwaltungskosten und die (neu erfassten, kassenexternen) Vermögensverwaltungskosten belaufen sich zusammengezählt für alle BVG-Einrichtungen auf 5,7 Milliarden Franken pro Jahr. Dies entspricht durchschnittlich nahezu einem Fünftel der reglementarischen Renten- und Kapitalleistungen aller Pensionskassen. Unsere Pensionsgelder, die ja aus den Zwangsersparnissen der Arbeitgeber und Arbeitnehmenden stammen, der Täuschungskultur der Finanzbranche unterworfen. Der Bund hat jetzt zwar etwas mehr Transparenz verschafft, aber mit der sogenannten Strukturreform noch keine griffige Lösung eingeführt, um dieses Versickern von Vorsorgegeldern wirksam zu unterbinden.

Herausforderung an die Wirtschaftspolitik
Die Finanzwirtschaft sollte eigentlich der Realwirtschaft dienen. Doch heute hat sie die Beziehung zur realen Wirtschaft verloren. Und die Finanzmärkte sind heute, global und innerschweizerisch, der grösste Destabilisierungsfaktor in der Wirtschaft. Die spekulativ angefachten Wechselkursturbulenzen, die Amtshilfeprobleme in Steuerfluchtfragen mit den USA, mit europäischen Nachbarn und mit der Europäischen Union, aber auch die Anlageprobleme von Vorsorgegeldern, haben die Politik und die Unternehmen viel Ressourcen und Aufwand gekostet. Und die Politik rennt zur Schadensminderung den finanzmarktlich verursachten Turbulenzen ständig hinterher.

Die Schweiz hat, mehr als andere Staaten, einen immensen Nachholbedarf bei der Finanzmarktregulierung, in der Bekämpfung von Steuerflucht und in der Wiedergewinnung von Vertrauen. Das wird das wirtschaftspolitische Programm Nummer eins der nächsten Jahre sein. Diese Täuschungskultur der Finanzwelt muss eingegrenzt werden. Vor deren Übermacht darf der Staat und darf der Gesetzgeber nicht resignieren.

Rudolf Strahm, Ökonom, Politiker und Preisüberwacher

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