Freitag, 8. Juli 2011

Mittelstand

Kürzlich bin ich dem Mittelstand beigetreten, eröffnet Silvia das Gespräch und leckt sich das Latte-Schnäuzchen von der Oberlippe. Der Mittelstand ist mir nicht fremd, da verbrachte ich meine ganze Kindheit, setzt meine ehemalige Studienkollegin das Thema fort. Während des Studiums musste ich vorübergehend austreten und mich in der Unterschicht ansiedeln. Mit allerhand Nebenjobs hielt ich mich über Wasser. Ich bewohnte in einer 2-er- WG eine 3- Zimmerwohnung – 65 Quadratmeter insgesamt – Gemeinschaftsdusche im Keller – Die Küche mit altem Gasherd war gleichzeitig das Bad, über dem Spültrog, wo ich das Geschirr von Hand abwusch, hatte ich ein Brett montiert, worauf Zahncreme, Zahn- und Haarbürste, wenig Kosmetiksachen, ein Nagelklupper, vor dem sich mein Mitbewohner ekelte, neben Zahnstocher und Rasierzeug (mir schauderte beim Anblick des eingetrockneten Rasierschaums) Deodorant, eine Schachtel Aspirin und Wattestäbchen den Platz optimal ausnutzten. Ich fand das ganze sehr übersichtlich. Nur wenn mein Mitbewohner nach dem Kochen hin und wieder vergas, die Gewürze zurück in die Bananenkisten unter der Küchenablage zu stellen und ich dann schlaftrunken anstatt nach der Zahnpaste zu greifen, den Salzstreuer in der Hand hielt, konnte ich schon mal die Nerven verlieren. Meistens aber fühlten wir uns frei, entbehrten wenig. Es störte uns nicht, dass unser Sitzplatz, gross genug um einen Grill und einen Tisch mit sechs Stühlen aufzustellen, öffentlicher Raum war und so unsere Essen von Fussgängern belebt wurden. Wir gaben schmatzend Auskunft, wenn Touristen nach dem Weg fragten und fühlten uns wie die Könige, wenn sie das offerierte Bier nicht ausschlugen.
Nun bin ich zurück im Mittelstand – jener Schicht, die für meine Eltern den Kompromiss schlechthin darstellte. Meine Mutter bekam das obligate Einfamilienhaus – darunter hätte sie’s nicht gemacht – und mein Vater konnte sein soziales Gewissen wahren (mehr zu besitzen wäre für ihn politisch nicht vertretbar gewesen).
Und - frage ich, nachdem Silvia lange gedankenverloren an dem Latte-Macchiato nippelt – findest du dich wieder zurecht? Mmh, meint sie träumerisch, für das Haus reicht es bei weitem noch nicht, und das Auto ist auch nur geleast, aber wir verdienen schon so viel, dass wir uns die Kinderkrippe gerade nicht mehr leisten können. Oh, erwidere ich bedauernd, und was macht ihr, wenn die Grosseltern nicht mehr mithalten können mit dem Kinderhüte-Dienst? Dann, setzt Silvia entschlossen an, ziehen wir definitiv wieder in die Unterschicht.

Gabriela Wild

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