Montag, 4. Juli 2011

Unverhoffte Freiheit vom Geld

Die Mittelschicht – und die Schweizerinnen und Schweizer sehen sich ja alle als untere, obere oder mittlere Mittelschicht, ein einig Volk von Mittelschichtlern, niemand hier würde sich als Mitglied der Ober- oder (Gott oder was auch immer behüte!) gar der Unterschicht bezeichnen – lebt zu den heutigen Zeiten materiellen Wohlstandsüberflusses in einer ambivalenten Beziehung zum Geld: Man hat zwar Geld, man kann sich vieles leisten, auch vieles, sehr vieles, das man eigentlich nicht wirklich bräuchte („Aber es ist so günstig!“, „Dieses Modell ist ein bisschen besser als jenes, das ich schon habe“, „Man gönnt sich ja sonst nichts“, und der Nachbar hat auch eines ...). Dennoch kann man sich nicht einfach alles leisten, nicht gedankenlos, nicht alles ist möglich, man hat nicht jene Mengen Geld, die einem unabhängig machen, die einem eine Zukunftsplanung unter dem Aspekt: Wovon lebe ich? ersparen. Geld ermöglicht vieles; Geld bedeutet Freiheit, und zwar Wahlfreiheit (allerdings werden die wählbaren Alternativen noch durch weit mehr eingeschränkt als lediglich durch das uns verfügbare Geld, zum Beispiel durch Gesetze, gesellschaftliche Praktiken und Werte, Verfügbarkeiten der nötigen Ressourcen etc.). Doch scheint uns offenbar, dass erst richtig hohe Summen, Summen, wie wir sie höchstwahrscheinlich nie erreichen werden, uns jene Wahlmöglichkeiten eröffnen würden, die uns glücklich machen könnten. Und obwohl wir mit steigendem Wohlstand immer mehr Dinge kaufen und konsumieren können, werden wir nicht glücklicher, nicht erfüllter. Immer gibt es noch mehr Dinge, noch teurere, noch neuere, noch besser designte und prestigeträchtigere Dinge, die man erwerben könnte, genug Geld vorausgesetzt. Wachstum ist das allgegenwärtige Schlagwort, Wachstum der Wirtschaft, Wachstum des Konsums, Wachstum des Ressourcenverbrauchs und des Abfallberges. Auf der psychologischen Ebene wird aus dem stetigen Wachstum des individuellen Konsums eine endlose Sucht nach mehr, das dann die Leere doch nicht zu füllen vermag – aber wenigstens vertreibt die Jagd nach den noch neueren, noch schnelleren, noch schöneren, noch teureren Dingen die Langeweile und gibt einem einen Grund, die eigene Lebenszeit hauptsächlich mit entfremdeter Arbeit und immer mehr Geldverdienen rumzubringen.
Die Freiheit, die das Geld verspricht, kann eine trügerische sein. Und paradoxerweise – ich spreche hier aus eigener Erfahrung – kann die Situation, nur wenig Geld zur Verfügung zu haben, nur gerade genug, um einen sehr einfach gestalteten Alltag finanziell zu bestreiten, unverhoffterweise eine andere Freiheit eröffnen: die Freiheit vom Konsumzwang. Sich nicht mehr dauernd zu überlegen, soll ich das kaufen oder jenes – oder gar keines? Könnte ich nicht noch ein neues X brauchen? Solche aus unserem materiellen Überfluss dauernd entstehenden Fragen entfallen völlig, weil sowieso kein Geld da ist. Werbung nimmt man gar nicht mehr wahr; Werbung und Angebote, die ganze Marktschreierei geht einem nichts mehr an, denn sie richtet sich jene Leute, die genug Geld haben, um im Konsumzirkus mitzutanzen. Keine unterschiedlichen Angebote mehr gegeneinander abwägen, weil man eh nur das absolut Notwendige erwerben kann. Die jede Saison wechselnde Mode – und es scheint mit fortschreitender Konsumkadenz immer mehr Saisons pro Jahr zu geben – kann einem egal sein, man hat ja noch Kleider, um sich anzuziehen, und in nicht allzu langer Zeit wird der letztjährige letzte Schrei wieder die neuste Mode sein. Knapp bei Kasse zu sein kann als grosse Befreiung erlebt werden, als Erleichterung, als Ausscheiden aus einem sich immer schneller drehenden Konsumkarussell und der dafür notwendigen Jagd nach mehr Geld (denn der Konsum will ja finanziert sein), einem Konsumkarussell, dessen Spiel nie zu enden scheint – bis die Ressourcen dann definitiv allzu knapp werden, aber das überlassen wir ja gerne unseren Nachkommen ...

Katharina Meyer

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen